Freiheit und Verantwortung - Die demokratische Gesellschaft in Zeiten von Corona

Gedanken dazu von Detlef Ruffert

Detlef Ruffert ist Mitglied der Dekanatssynode, der Kirchensynode der EKHN, Prädikant in unserem Dekanat und Vorsitzender des Kreistages des Landkreises Marburg-Biedenkopf.
Plötzlich mussten alle Gottesdienste abgesagt werden. Das Grundrecht der freien Religionsausübung wurde eingeschränkt. Eigentlich ein unvorstellbarer Vorgang. Doch die Kirchen protestierten nicht, denn die Maßnahme war nachvollziehbar.

Niemand wollte ein religiöses Ischgl riskieren. Auch andere Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit oder das Recht auf freie Berufsausübung wurden eingeschränkt.
Für solche Notfälle gibt es Gesetze, die dies möglich machen. Anfangs entstand allerdings der Eindruck, dass nur noch die Regierung agiert und nicht das Parlament diskutiert. Gerade in Notzeiten braucht es aber die Debatte, die Auseinandersetzung mit Argumenten. Demokratie braucht Rede und Gegenrede gerade in der Krise.
Unsere demokratische Gesellschaft ist krisenerprobt, sie erwies sich als standfest und sicher. Krisen werden nicht verschwiegen und vertuscht. Aber keine Krise der letzten Jahre veränderte die erlernten Regeln und Denkweisen und Handlungsnotwendigkeiten so stark wie diese. Weil sich das gesellschaftliche Leben schlagartig veränderte, wurde dies auch für die Demokratie zunehmend zu einem Stresstest.
Das Machtmonopol des Staates wird von der überwiegenden Mehrheit akzeptiert, auch weil die Krise klug und geradlinig gemanagt wurde. Störend war nur, wenn Eindrücke von Beliebigkeit politischer Entscheidungen, nicht zuletzt bei den Lockerungen, entstanden. Verlustängste, bezogen auf den sozialen Status, auf zukünftige Lebensweisen, öffneten zudem einen Raum populistischer Gegenwehr. Dagegen gilt es, ein Zeichen zu setzen. Denn unsere Demokratie ist stark genug einerseits Meinungsfreiheit zu akzeptieren und andererseits sich gegen Populismus zu stemmen.
Aufgabe für die demokratische Gesellschaft ist zu lernen, konkret mit der tödlichen Gefahr des Virus zu leben und damit, die gesellschaftlichen Konsequenzen der Beschränkungen intensiv zu hinterfragen, auch darüber, wann und wie die Beschränkungen aufgehoben werden.
Das klare Bekenntnis zur Demokratie bedeutet aber vor allem, die Menschen in ihrem eigenverantwortlichen Handeln zu stärken, denn demokratische Teilhabe und Mitwirkung sind die prägenden Elemente unserer Gesellschaft. So wurden folgerichtig die Einschränkungen bzw. deren Aufhebung vom Staat in die Zivilgesellschaft übertragen. Das Signal ist: Die Menschen in einer demokratischen Gesellschaft können durch bewusstes Handeln selbst die Krise steuern und bewältigen.
Menschen zu stärken eigenverantwortlich und verantwortungsbewusst in der Krise zu leben, ist Aufgabe aller gesellschaftlich relevanter Gruppen, auch der Kirchen. Sie sollen in die Gesellschaft wirken, für Akzeptanz sorgen, wenn notwendige Beschränkungen im Zusammenleben zum Schutz jedes Einzelnen erforderlich sind. Sie haben aber auch kritisch hinzuschauen und konstruktiv die Maßnahmen zu hinterfragen, auch diejenigen, die kirchliches Leben selbst beeinträchtigen.
Die Kirche hat die Aufgabe das hohe Gut der Religionsfreiheit zu wahren und den Gläubigen Kraft und Zuversicht zu vermitteln gegen alle Entwicklungen, die Glaubensleben beeinträchtigen. Gemeindliches Leben zu stärken bedeutet an den demokratischen Strukturen der Kirche festzuhalten. Es ist Aufgabe, kirchengemeindliche und synodale Strukturen neu zu denken.
Das klare Bekenntnis der Kirche auf dem Boden der Freiheit der Religionsausübung zu einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, zu einer Gemeinschaft, nicht nur der Gläubigen sondern auch aller Menschen, die guten Willens sind, stärkt das Vertrauen in die Kirche, in den Glauben und in die Gesellschaft. Dann kann Kirche glaubwürdig und helfend auf allen Ebenen bei der Bewältigung der Krise gestaltend und verantwortlich mitarbeiten im Sinne einer auf den Nächsten ausgerichteten Lebensweise.

(Bild: Landkreis Marburg-Biedenkopf – Banner am Gesundheitsamt ?„Danke für die Vernunft!“)

25 Mai 2020